Anmerkungen zur politischen Lage zum Thema Migration, nicht zuletzt aus lokal- bzw. regionalpolitischer Sicht

Nach der Europawahl sind jetzt wieder alle liberalen, bürgerlichen und auch linken Parteien ganz ratlos. Die Grünen in Gestalt von Ricarda Lang schaffen es auf erstaunliche Weise, inhaltslosere Sprechblasen abzulassen als CDU, SPD, FDP: „Wir müssen besser darin werden, Probleme zu lösen, Kompromisse einzugehen, dann auch dazu zu stehen und weniger zu streiten.“[1]. Die aktuell in der politischen Arena agierenden demokratischen Parteien sind schon sehr konsterniert. Dabei wäre Vieles gar nicht so erstaunlich, wenn man vorher hingesehen hätte. Und selbst nicht so orientierungslos wäre angesichts der real existierenden Probleme. Ein schlagendes Beispiel dafür ist in einem Brief der SPD (vom 6. 5. 2024) an ihre Mitglieder zu finden, den Katarina Barley als Spitzenkandidatin zur Europawahl unterzeichnet hat. Darin heißt wörtlich: „Die SPD macht Politik für die arbeitende Mitte.“ Was bitteschön ist „die arbeitende Mitte“? Ich weiß, dass nicht wenige Leute in der SPD diese Frage gestellt haben. Aber dieses Narrativ der Mitte ist chic, wie man in der Süddeutschen Zeitung zur Wahl Holger Grießhammers als neuem Fraktionsvorsitzenden der SPD im Bayerischen Landtag, wo die SPD nur noch eine 8-Prozent-Partei ist, lesen kann: „Nach außen möchte Grießhammer ‚die Politik der SPD in Bayern auch ein Stück weit in die Mitte der Gesellschaft rücken‘ – er meint damit eine Politik ‚für die Fleißigen‘, also für jene, ‚die selbst für ihren Unterhalt sorgen‘“[2]. Es ist offensichtlich, dass „die arbeitende Mitte“ oder „die Fleißigen“ als gesellschaftliche Kategorie purer Unsinn sind, denn was wäre zum Beispiel ein „arbeitender Rand“? Dabei gibt es den „hässlichen Rand“, wie der Soziologe Gerhard Bosch sagt: „Deutschlands Wirtschaftsmacht beruht auf HighTech, auf guten Produkten, auf Innovation. Aber unser Wohlstand hat einen ›hässlichen Rand‹. Und dieser ›hässliche Rand‹ liegt in der Ausbeutung von Menschen. Das sind illegale Arbeitskräfte, entsendete Arbeiter, aber auch regulär in Deutschland beschäftigte Migranten, die schlechter bezahlt werden.“[3] Um diesen „hässlichen Rand“ kümmert sich die SPD allerdings schon lange nicht mehr, von den Grünen und den anderen bürgerlichen Parteien ganz zu schweigen. Im Gegenteil: Laut einer Pressemitteilung (PM) mit dem Titel „Bezahlkarte für Asylsuchende: Keine Insellösung für Bremerhaven“ vom 24. 6. 2024[4] scheinen der der SPD angehörende Oberbürgermeister Melf Grantz und der für Soziales zuständige Stadtrat und gleichzeitig SPD-Parteivorsitzende in Bremerhaven Martin Günthner auf AfD-Kurs einzuschwenken, zumindest gießen sie Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen. Bremen hatte sich dafür ausgesprochen, für Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, eine Bezahlkarte einzuführen und sie mit einem Barbetrag von bis zu 120 Euro auszustatten, im Unterschied zu Niedersachsen und anderen Bundesländern, die den Barbetrag auf 50 Euro begrenzen wollen. Die führenden SPD-Lokalpolitiker kritisieren, dass „der Bremer Weg [] eine Insellösung für Bremerhaven [wäre], die negative Auswirkungen für die Stadt haben könnte.“[5] Diese Aussage ist purer Rechtspopulismus: Sie öffnet der rechtextremistischen Hetze mit einer Falschinformation Tür und Tor und bedient darüber hinaus billige Ressentiments. Die zum großen Teil rassistischen und hetzerischen Reaktionen in den Social-Media-Kanälen scheinen das zu bestätigen. Eine Ausnahme bildet eine Userin auf dem städtischen Facebook-Kanal, die zutreffend schreibt, dass Menschen, deren Asylverfahren noch nicht entschieden ist, Leistungen nach dem bundesweit einheitlichen Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Diese Leistungen sind mit maximal 460 Euro monatlich niedriger als die Grundsicherung oder das Bürgergeld in Höhe von 563 Euro monatlich, liegen also unter dem Existenzminimum. Ein Teil dieses Geldes kann mit der „Bezahlkarte" nicht mehr selbstbestimmt ausgegeben werden. Beispielsweise ist der günstige Kauf von Gebrauchtwaren fast unmöglich.

 

Da Menschen, die sich im Asylverfahren befinden, generell einem Wohnort zugewiesen werden, also nicht einmal das Bundesland wählen können, erschließt sich nicht, inwiefern eine unterschiedliche Höhe der Barauszahlung je nach Bundesland einen negativen Effekt haben soll. „Hier bitte ich die Herren Grantz und Günthner um Erläuterung“, so die Userin.[6] Diese Bitte ist berechtigt, denn die unterschiedlichen Auszahlsummen können gar keine Sogwirkung auf Asylsuchende nach Bremerhaven haben, wie von den beiden lokal führenden SPD-Politikern insinuiert wird. Wer solch eine Pressemitteilung herausgibt, gerät in gefährliche Nähe dazu, der rechtsradikalen Legende, Deutschland werde von Asylsuchenden „überschwemmt“, das Wort zu reden. Durch Fakten ist sie jedenfalls keineswegs gedeckt. Politiker, die sich gerne rühmen, eine kulturelle und wissenschaftliche Institution wie das Deutsche Auswandererhaus in ihrer Stadt zu beherbergen, sollten das wissen. Vielleicht wäre dort mal ein Besuch angeraten? Dann könnten sie erfahren, dass Leute, die Migranten und „Scheinasylanten“ als Arbeitsplatzvernichter und Sozialschmarotzer hinstellen, nur von den wahren Ursachen der schwindenden Arbeitsplatzsicherheit, der wachsenden finanziellen Unsicherheit und der Verteuerung der Lebenshaltung etc. ablenken.[7] – Ach ja, um auch noch die Legende zurechtzurücken, die von Migration als „Arbeitsplatzvernichtung“ faselt, sei darauf hingewiesen, dass nicht zuletzt Arbeitsmarktforschende erklären: „Um den Arbeitskräftemangel und den demografischen Wandel zu kompensieren, ist Deutschland auf eine jährliche Nettozuwanderung von 400 000 Menschen angewiesen, schreibt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Da viele Migranten das Land wieder verlassen, müssen demnach über eine Million Menschen zuwandern.“[8]

 

War die SPD tatsächlich einmal die Partei des sozialen Ausgleichs – als solche habe ich sie am Anfang der 1970er Jahre wahrgenommen und bin ihr deshalb 1974 beigetreten –, so ist das schon lange vorbei. Nun hat sie sich „bereits zu Beginn des Jahres vorgenommen, uns mit unserer Politik noch stärker auf die Menschen zu fokussieren, die jeden Tag aufstehen und zur Arbeit gehen, sich um ihre Kinder oder Eltern kümmern, die unser Land am Laufen halten. Da geht es um bezahlbare Mieten, eine gute Betreuungsinfrastruktur, gute Löhne und ein bezahlbares Leben in einer sicheren Nachbarschaft.“[9] Man fragt sich, wenn sich die beiden SPD-Vorsitzenden auf „die Menschen fokussieren [wollen], die jeden Tag aufstehen und zur Arbeit gehen, sich um ihre Kinder oder Eltern kümmern, die unser Land am Laufen halten“, wer sich um den „hässlichen Rand“ kümmert. 

 

Was wir in diesem Land brauchen, ist die Wiederbelebung an sich selbstverständlicher Standards im Umgang mit anderen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung. Das ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern eine soziale und ökonomische Notwendigkeit. Allein schon die Rede von „Deutschen mit Migrationshintergrund“ ist im Grunde völlig unsinnig und noch dazu ausgrenzend und diskriminierend. Die Würde jedes Menschen als unantastbar zu achten, ist überdies im wohlverstandenen eigenen Interesse, weil ohne Migration beispielsweise das Sozialsystem in der Bundesrepublik Deutschland zusammenbrechen würde. Deshalb ist die Äußerung des CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann, die wichtigsten aktuellen politischen Themen seien „Migration, Migration, Migration. Dadurch haben wir an allen Ecken und Enden – von den Krankenhäusern über den Wohnungsmarkt bis in die Schulen – eine komplette Überforderung unseres Landes“[10] nicht nur sachlich falsch und moralisch verwerflich, sondern auch politisch eine brandgefährliche Zündelei. 

 

Das Problem in der herrschenden Debatte über Migration besteht vor allem darin, dass viel mit Ressentiments und Vorurteilen hantiert wird. Nicht nur bei Rechtsextremen oder Rechtspopulisten, sondern leider auch im bürgerlichen Milieu, wie Linnemann schlagend beweist. Wenn dann einer wie der Journalist Jan Feddersen, der eher dem sozialliberalen Milieu zuzuordnen sein dürfte, in der taz[11] meint, die politische Linke und die Grünen hätten ein Problem damit, sich zur Kriminalität von Asylbewerbern (ich schreibe bewusst nur die männliche Form, weil in den Medien praktisch immer nur von kriminellen Männern die Rede ist!) klar zu verhalten, dann befürchte ich, dass er einer Schimäre aufsitzt. Denn beispielsweise „Manuela Schwesig, SPD, aus Mecklenburg-Vorpommern fordert, ‚dass diejenigen, die zu uns kommen und eigentlich Schutz suchen, aber vor denen wir uns schützen müssen, weil es Straftäter sind, nicht bleiben können‘. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen stimmt zu: ‚Dass Mörder, Terroristen, Gefährder sich nicht auf den Schutz des Landes berufen können, das sie eigentlich zerstören wollen – und dessen Ordnung sie mit den Füßen treten.‘“[12] Um nur mal eine erstbeste Quelle zu nehmen. Die Erklärungen nach dem Mannheimer Verbrechen waren in der demokratischen Gesellschaft einhellig ablehnend und verurteilend. Dass es auch Einzelpersonen oder Grüppchen gibt, die das anders sehen – geschenkt. Deshalb zu lamentieren, Linke oder Grüne würden sich der Realität des Alltags nicht stellen, ist Wasser auf die Mühlen rechter Kreise und unterstützt deren Ressentiments. 

 

Es ist nachgerade bemerkenswert, dass die CDU-Politikerin Angela Merkel 2015, als viele Menschen vor Krieg und Gewalt im Mittleren Osten nach Deutschland flüchteten, mit Verweis auf das wirtschaftlich und sozial starke Deutschland erklärte: „Wir schaffen das“. Sie hatte recht. Schon vor 2015 war von interessierten Kreisen durch Hetze, aber auch durch gezielt geschürte Ängste ein zu bewältigendes Problem zu einem Monster aufgeblasen worden. Allerdings muss man zugeben, dass einige Ängste leider durch teilweise gravierende Fehler der Politik entstanden sind. Einer der größten Fehler war und ist die Unterbringung von Flüchtlingen in Massenunterkünften, und das nicht nur in Erstaufnahmeeinrichtungen[13]. Bremerhaven ist einen anderen Weg gegangen, mit dem Ergebnis, dass es in der Stadt keine außergewöhnlichen Konflikte oder ausgeprägten Äußerungen von Ausländerfeindlichkeit gibt. Zudem sind in Bremerhaven die Hilfen zur Integration Schutzsuchender gut organisiert, und es gibt darüber hinaus einen großen Kreis von Unterstützenden aus der bürgerlichen Gesellschaft. Einen wichtigen administrativen und politischen Beitrag liefert dafür das mittlerweile „2. Integrationskonzept“ der Stadt, in der im Übrigen Oberbürgermeister Grantz, der mit seiner seltsamen Pressemitteilung vor eine „Insellösung“ warnte, ein durchaus empathisches Grußwort geschrieben hat, das mit folgendem Satz endet: „Es ist eine menschliche Pflicht der Stadt Bremerhaven, den zu uns gekommenen Menschen zu helfen, sie zu unterstützen und ihnen Halt zu geben. Ich bin mir sicher, dass dieses Konzept dazu beitragen kann.“[14]

 

Wenn Feddersen in der taz schreibt, „in den vergangenen 15 Jahren, insbesondere im ‚Wir schaffen das‘-Jahr 2015, als Hunderttausende aus Syrien, Irak, Afghanistan nach Deutschland flüchteten, hatte diese Art der Einwanderung den Aufstieg der Rechten erheblich befördert. Über viele Monate füllten sich allerorten in der Republik Sporthallen, Schulen, Gewerbegebietshallen als Aufnahmequartiere,“[15] dann liegt der „Aufstieg der Rechten“ eben nicht an den hier Schutz suchenden Menschen, sondern daran, dass „Sporthallen, Schulen, Gewerbegebietshallen als Aufnahmequartiere“ genutzt wurden. Um den ausländerfeindlichen Legenden nicht auf den Leim zu gehen, müssen deshalb vor allem diese zum Teil hausgemachten Probleme gelöst werden. Im Übrigen gilt, was der Migrationsforscher Hein de Haas in seinem lesenswerten Buch „Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ über die Beschäftigung mit dem Thema Migration schreibt: „…, wenn wir die Migration nur als Pro-und-Kontra-Debatte angehen, dann übersehen wir einen wesentlichen Aspekt des menschlichen Daseins und unserer Geschichte. Migration hat es schon immer gegeben, sie ist so alt wie die Menschheit. Wir waren immer schon unterwegs. Aber mit unserem Kästchendenken sind wir nicht in der Lage, die Migration als ganz normalen Prozess zu verstehen und ihrer Natur, ihren Ursachen und ihren Folgen auf den Grund zu gehen.“ Weiter merkt er an: „Es fällt jedoch auf, dass die technische, nicht ideologische Diskussion über Migration – welche Politik funktioniert, welche nicht, welche erweist sich als Bumerang? – weitgehend unbeachtet bleibt, obwohl an Forschungsliteratur zu diesem Thema kein Mangel herrscht. So kommt es, dass unsere aktuelle Migrationsdebatte gar keine Debatte ist, sondern überwiegend Meinungsmache und Wunschdenken.“[16]

 

Dazu gehört, sich zu vergegenwärtigen, dass die Zahl der Menschen, die hierzulande um Asyl bitten, natürlich vor allem von der Situation ihres Ursprungslands abhängt, weshalb es eben keine stetige Steigerung gibt, sondern die Zahlen in Wellenbewegungen zu- und abnehmen. Daraus ergibt sich zu fragen, aus welchen Gründen die meisten Menschen jeweils kommen. Sie kommen nämlich aus Ländern, in denen sie entweder Krieg oder hoher Verfolgung aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen ausgesetzt sind: „Die mit Abstand meisten Menschen, die in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt haben, kamen 2023 aus Syrien gefolgt von Türkei, Afghanistan, Irak, Iran und Georgien. Im laufenden Jahr 2024 sind die häufigsten Herkunftsländer Syrien (26.193 Antragstellende), Afghanistan (13.011), Türkei (11.789), Irak (3.685), Somalia (2.284) und Iran (2.224).“[17] Wie sich Krisen in bestimmten Ländern und Regionen verschärfen oder auch abnehmen, lässt sich an den Wellenbewegungen der Flüchtlingszahlen ablesen. Das Sozialsystem eines Ziellands spielt dabei nur eine marginale Rolle. Es geht vor allem darum, Sicherheit zu erreichen.

 

Außerdem sollte man zur Kenntnis nehmen, dass die gegenwärtige internationale Migration weder ungewöhnlich hoch ist noch zunimmt. Vielmehr gilt über Jahrzehnte hinweg betrachtet: „Der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung ist […] bemerkenswert stabil bei rund 3 Prozent geblieben.“[18] Was sich geändert hat, ist die Richtung, in denen die Migration verläuft. Ging es bis zum Ende des 2. Weltkriegs vor allem in Richtung Amerika, Afrika und auch Asien, hat sich seitdem die Zielrichtung umgekehrt: „Die größte Veränderung ist die zunehmend nichteuropäische Herkunft der Migranten. Seit der ‚globalen Umkehr der Migration‘ steigt die Zahl der Migranten aus Lateinamerika, Asien und in geringerem Umfang auch aus Afrika in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland sowie in den neuen Zielen am Arabischen Golf und in Ostasien. Am Gesamtumfang der internationalen Migration ändert sich nichts, nur an der Richtung.“[19]

 

Für Deutschland sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die immer wieder kolportierte Behauptung, neun von zehn Menschen kämen über das Asyl- und Flüchtlingssystem ins Land und nur einer über reguläre Arbeitsmigration, falsch ist. Tatsächlich sind, so Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung (INTER) am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), „nur 13,1 Prozent der Menschen, die von 2010 bis 2021 nach Deutschland zugezogen sind, … über das Asyl- und Fluchtsystem gekommen. Selbst im Ausnahmejahr 2015, in dem viele Menschen aus Syrien und Afghanistan kamen, waren es weniger als 25 Prozent.“[20] Mit Blick auf die EU sind es nur 9,5 Prozent[21].

 

Eine weitere gerne genutzte Legende kolportiert, dass die meisten Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, in Wirklichkeit nur in das Sozialsystem einwandern wollten, um es sich hier gut gehen zu lassen. Das ist in mehrfacher Hinsicht Quatsch. Denn abgesehen davon, dass man es sich mit den Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (max. 460 Euro/Monat), die unter denen des Bürgergelds (563 Euro/Monat) liegen, keineswegs gut gehen lassen kann, wollen die meisten Menschen, die nach Deutschland kommen, arbeiten. Doch da fängt das Problem schon an:

„Asylsuchende …, die sich noch im Asylverfahren befinden, dürfen laut Bundesagentur für Arbeit frühestens nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland arbeiten. Das Gleiche gilt für Menschen, die in Deutschland geduldet werden. Nicht arbeiten dürfen Flüchtlinge, solange sie verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen.

Eine Ausnahme beim Arbeitsmarktzugang gilt für Asylsuchende aus ‚sicheren Herkunftsstaaten‘: Sie dürfen für die gesamte Zeit des Asylverfahrens nicht arbeiten. Auch für Geduldete aus diesen Ländern gibt es keine Arbeitserlaubnis.“[22]

 

Sehr fundiert wird dies in einer neuen Untersuchung des IAB dargestellt, wo Deutschland eher im unteren Mittelfeld landet, wenn es um die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt geht[23].

Ein oft genutztes Narrativ ist der Zusammenhang von Migration und Kriminalität. Dazu erklärt der Kriminologe Christian Walburg: 

„Auch unter Migranten wird nur ein kleiner Teil straffällig. Allerdings fallen Migranten(-nachkommen) insgesamt häufiger mit Straftaten auf als Nichtmigranten. Die Unterschiede sind z.T. mit einer unterschiedlichen Alters- und Geschlechtszusammensetzung sowie mit belastenden Lebensumständen und -erfahrungen in einigen Zuwandergruppen zu erklären.

Erwachsene Migranten mit Aussicht auf Zugang zum Arbeitsmarkt fallen allgemein recht selten mit Straftaten auf.

Bei Gewaltdelikten von Geflüchteten spielen unter anderem Konflikte in Gemeinschaftsunterkünften, geringe soziale Bindungen, Belastungen durch die prekäre Lebenssituation sowie mögliche frühere Gewalterfahrungen eine Rolle.

Unter jungen Menschen aus bereits länger ansässigen Migrantenfamilien war die Kriminalitätshäufigkeit zuletzt, wie auch bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, deutlich rückläufig.“[24]

 

Hier wird deutlich, dass gerade Kriminalitätsprobleme durch politische Maßnahmen wie die Massenunterkünfte und Arbeitsverbote sowie mangelhafte Betreuung mitverursacht sind. Das bestätigt sich auch, wenn man die Tatverdächtigen – wohlgemerkt Tatverdächtigen, nicht Verurteilten – genauer betrachtet: 

„Von den ‚tatverdächtigen Zuwanderern‘ waren 2022 84,1 Prozent männlich. 57,2 Prozent waren jünger als 30 Jahre. Die meisten Zuwanderer kamen 2022 aus der Ukraine, Syrien, Afghanistan und dem Irak. Sie sind aber nicht überproportional oft kriminell in Erscheinung getreten, etwa Personen aus der Ukraine deutlich unterproportional. Überproportional vertreten sind Tatverdächtige etwa aus den Ländern Nigeria, Algerien, Marokko und Georgien. 

Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Anteilen mit Bezug auf die Herkunftsländer?

Zum einen lässt es sich aus der übrigen Statistik ableiten: Die meisten Tatverdächtigen sind Männer (84 Prozent). Die Länder, aus denen überwiegend Männer nach Deutschland zuwandern, sind daher auch stärker in der Kriminalitätsstatistik wiederzufinden. Ein Land wie etwa Syrien hingegen ist unterproportional stark vertreten. Aus Syrien konnten wegen der hohen Schutzquoten in Deutschland und der daraus resultierenden Möglichkeit der Familienzusammenführung auch viele Kinder und Frauen nach Deutschland einreisen.

In der Forschung werden daneben laut dem Kriminologen Christian Walburg zwei weitere Erklärungsansätze diskutiert. Zum einen die These, dass aus bestimmten Ländern nicht ein Querschnitt der Bevölkerung auswandert (und nach Deutschland einwandert), sondern tendenziell häufiger Personen, die ein höheres Risiko für Kriminalität haben: Etwa, weil sie tendenziell stärker armutsgefährdet sind oder früher selbst Gewalt erfahren haben.

Die andere in der Forschung diskutierte These ist laut Walburg, dass die Menschen, denen in Deutschland weniger Chancen und Perspektiven geboten werden, ein höheres Risiko haben, straffällig zu werden. Personen aus Staaten mit einer hohen Schutzquote in Deutschland – also einer guten Chance, ein Bleiberecht zu erhalten – wie etwa Iraker und Syrer haben damit auch Aussichten auf Integrations- und Arbeitsmöglichkeiten. Personen aus Ländern mit geringer Schutzquote – etwa Algerien, Tunesien, Marokko – bekommen diese Chance oft nicht.“[25]

 

Beide Thesen wären es wert, ernsthaft diskutiert zu werden.

 

In seiner „Expertise Jugenddelinquenz in der Einwanderungsgesellschaft“ kommt der Kriminologe Christian Walburg zu folgendem Fazit: 

„Delinquentes Verhalten ist im Jugendalter in gewissem Maße normal und meist episodenhaft. Zu einem kleinen Teil kommt es aber auch zu gravierenderen Delikten und manchmal auch zu länger anhaltender Straffälligkeit. Untersuchungen aus den letzten vier Jahrzehnten haben gezeigt, dass Jugendliche aus zugewanderten Familien etwas häufiger als Jugendliche ohne Migrationshintergrund von Umständen betroffen sind, die delinquentes Verhalten begünstigen. Dazu gehören geringere familiäre Ressourcen, Bildungsnachteile und problematische Erziehungsstile.

Die Jugenddelinquenz ist ab Mitte der 2000er Jahre insgesamt stark rückläufig gewesen, und dies auch bei Jugendlichen mit Migrationsbezügen. Jugendliche haben in dieser Zeit herkunftsübergreifend davon profitiert, dass sich Sozialisationsbedingungen positiv entwickelt haben. Neue und besondere Herausforderungen haben sich zum Teil durch die starke Zuwanderung junger Geflüchteter ab 2015 ergeben.

Aktuell deuten die Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik darauf hin, dass delinquentes Verhalten insgesamt wieder etwas häufiger wird. Für eine umfassende Einschätzung des aktuellen Trends ist die weitere kriminalstatistische Entwicklung abzuwarten, vertiefende Studien hierzu stehen noch aus. Dennoch ist es wichtig, die Entwicklung junger Menschen umfassend zu fördern, um etwaigen Risiken durch die Belastungen der Corona-Pandemie, die wirtschaftliche Lage sowie ein generell konfliktbehafteteres gesellschaftliches Klima entgegenzuwirken. Neu zugewanderte junge Menschen und deren Familien sind darauf in besonderem Maße angewiesen. Kindertagesstätten, Schulen und Jugendhilfe müssen hierzu angemessen ausgestattet werden.“[26]

 

Zum Schluss will ich noch ein paar Bemerkungen zu einem Thema machen, das auch Feddersen anspricht, wenn er schreibt: „Warum steht der Islam nie in der Debatte? Er gehört selbstverständlich zu Deutschland und seinen Kulturen – aber unter allen Bedingungen?“[27] Ja, es wäre nicht falsch, wenn über den Islam ebenso diskutiert würde wie über die christlichen Religionen, deren Kenntnis in unserer zunehmend säkularen Gesellschaft auf geradezu erschreckende Weise rudimentär ist. Wenn man etwas mehr über die Religionen wüsste, fiele es leichter, die sozusagen sektiererischen und kriminellen Elemente von den gutgläubigen Religionsangehörigen zu unterscheiden. Denn Tatsache ist, dass „die Zahl der ‚Gefährder‘ im Bereich islamistischer Terrorismus sich laut Bundeskriminalamt (BKA) zum 2. Januar 2024 auf 483 Personen beläuft. [] Hinzu kommen 505 ‚relevante Personen‘ (Stand 2.Januar 2024).“[28] Jede religiös motivierte Gewalttat ist zu verurteilen, wenngleich sie verhältnismäßig selten sind, und sie sind auch nicht gegen die viel zahlreicheren Gewalttaten gegen erkennbar religiöse Menschen oder Einrichtungen wie Synagogen oder Moscheen aufzurechnen. Aber dass religiös motivierte Gewalttaten eine größere Publizität erfahren als andere kriminelle Handlungen, hat mit den vielen Medien zu tun, die für die entsprechende Publizität sorgen.  

 



[3] zitiert nach Lübbe, Sascha, Ganz unten im System, Hirzel Stuttgart 2014

[5] ebd.

[6] https://www.facebook.com/Bremerhaven.de/, 24. 6.2024: Habt ihr die Diskussion um die Bezahlkarte mitbekommen?“

[7] vgl. Hein de Haas: Migration - 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt, aus dem Englischen von Jürgen Neubauer, S. Fischer Frankfurt/M 2024

[8] Lübbe, a.a.O.

[9] Mail von Lars Klingbeil und Saskia Esken an die SPD-Mitglieder vom 11.6.24

[13] „Im Rahmen der Übergangsunterbringung wurden am 30.06.2023 1.456 Geflüchtete betreut. Hinzu kamen 185 Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG in selbst angemietetem Wohnraum, sodass insgesamt 1.641 geflüchtete Menschen betreut wurden. Die Übergangsunterbringung in Bremerhaven setzte sich aus vier Gemeinschaftsunterkünften, vier Verbundwohnkomplexen und 314 dezentralen Wohnungen im Stadtgebiet zusammen.“ (Sachstandsbericht des Magistrats zur Situation von Geflüchteten in Bremerhaven für das zweite Halbjahr 2023)

[14] 2. Bremerhavener Integrationskonzept – Integration gemeinsam gestalten, Bremerhaven 2020, S. 6

[15] Feddersen, a.a.O.

[16] de Haas, a.a.O.

[18] de Haas, a.a.O.

[19] ebd.

[21] de Haas, a.a.O.

[23] Kosyakova, Yuliya, Kseniia Gatskova, Theresa Koch, Davit Adunts, Joseph Braunfels, Laura Goßner, Regina Konle-Seidl, Silvia Schwanhäuser & Marie Vandenhirtz (2024): Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter: Eine internationale Perspektive. (IAB-Forschungsbericht 16/2024), Nürnberg, 80 S. 

[27] Feddersen, a.a.O.